Zukunft braucht Herkunft – oder: wo StoryDox seine Wurzeln hat

„History”, schreibt der britische Autor Julian Barnes in seinem grandiosen Roman Sens of an ending, „is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.” Mit Überlieferungsmängeln und Erinnerungslücken haben vor allem die Historiker zu kämpfen, die sich mit der Geschichte von Familienunternehmen und den Geschichten von Unternehmerfamilien befassen. Familien wie Unternehmen sind ja in der Regel so mit der Gegenwart beschäftigt, dass sie sich kaum Gedanken um deren Zukunft machen, die dann Vergangenheit heißt.

Ein Beispiel: Vor dem Eingang zu meinem Großelternhaus hat sich ein Mosaik erhalten, das das Jahr 1894 und die Buchstaben „W. Sch.“ mit einer kleinen Zwei in römischen Ziffern erkennen läßt (siehe unten). Wie schön, eins der wenigen Artefakte aus der Geschichte einer Unternehmerfamilie, die seit dem 18. Jahrhundert vor Ort ansässig ist. Aufgrund meines 2. Vornamens hatte ich allen Grund zur Annahme, dass das inzwischen renovierte, aber in seinem Kern alte Haus im besagten Jahre von Wilhelm Schäfer erbaut worden ist.

Weit gefehlt. Ein Blick in den Familien-Stammbaum zeigt: Die Schäfers haben überhaupt keinen Ahnen mit diesen Vornamen. (Er ist von meinem Taufpaten auf mich gekommen.) Sie hießen Maximilian, Karl oder Ludwig und haben das Haus nicht gebaut. Die älteste lebende Generation konnte sich nach langem Überlegen erinnern, dass das einstöckige Wohnhaus von einem gewissen Wilhelm Schnell errichtet worden ist. Und in der Tat wird er in der „Mettenheimer Chronik“ als Bauherr genannt.

Vor 120 Jahren erwarb dann Jacob Metz das Wohnhaus, das zum Stammsitz der Schäfers geworden ist. Von Karl über Ludwig bis zu den heute Lebenden. Wie das? So genau, ist das nicht zu eruieren, weil die familiäre Erinnerung nicht so weit zurück reicht und die quellenmäßige Überlieferung nicht die Beste ist. Jacob Metz hat jedenfalls das Haus 1904 seinem Stiefsohn Karl Schäfer vermacht. Dieser Karl, 1874 geboren, war das jüngste Kind von Maximilian Schäfer. Der Stammhalter war ihm von Gertrude Braun geboren worden, die Max in zweiter Ehe geheiratet hatte. (In erster Ehe war er mit deren Schwester, Helene Braun, liiert, die ihm 1869 eine Tochter schenkte. Diese wurde auf den Vornamen der Schwester von Gertrude getauft.) Soweit, so klar? Oder unklar?

Jedenfalls starb Maximilian im Alter von nur 34 Jahren und ließ die arme Frau mit einem zweijährigen Sohn und einer schulpflichtigen Stieftochter zurück. Eine Katastrophe, auch wenn er der Familie ein Wohnhaus mit einer Scheune und einem Stall, also ein recht ansehnliches Anwesen, hinterließ. Die von Maximilian auf dem Gehöft betriebene Schmiede konnte die Witwe, alleinstehend wie sie nun war, keinesfalls fortführen. Von der Bewirtschaftung der Ländereien ganz zu schweigen. Beides dürfte jener Jacob Metz übernommen haben, den Helene nach dem Tod ihres ersten Mannes 1876 heiratete. Die Verehelichung lenkte die Geschicke der Familie Schäfer in eine Richtung, der sie nun seit mehr als einem Jahrhundert folgt.

Unweit des Schäferschen Anwesens erwarb nämlich Jacob Metz 1889 ein weiteres Gebäude, das er aber abreißen ließ. An seiner Stelle errichtete er ein Kelterhaus mit Keller. Offensichtlich war der Weinanbau in der Familie schon so weit gediehen, dass sich diese Einrichtung anbot. So reihten sich meine Vorfahren in eine lokale Tradition ein, die – dank einer Schenkung an das Kloster Lorsch – bis ins 8. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist. Vor 100 Jahren übergab Jacob Metz auch das Ensemble am Kellerweg seinem Stiefsohn Karl, der es wiederum seinem Sohn Peter Ludwig hinterließ. Die nächste Generation baute schließlich Keller und Kelterhaus zu einem Weingut aus. Schäfers Wein reift nun seit mehr als 100 Jahren in den Gewölben, die Jacob Metz Ende des 19. Jahrhunderts am Kellerweg Nr. 40 errichten ließ.

Angesichts der verwickelten Familiengeschichte, die auch eine lange Unternehmensgeschichte ist, drängen sich zwei Schlussfolgerungen auf:
1. Familiäre Erinnerungen, in welcher Form auch immer, müssen gesichert werden, auch und gerade in Unternehmerfamilien, weil ihre Geschichten die Geschichte von Familienunternehmen sind.
2. Die kombinierte Familien- und Unternehmensgeschichte gibt dem eingangs erwähnten Mosaik erst den richtigen Sinn. Die vier Buchstaben stehen einfach für das „Weingut Schäfer“, das in diesem Wohnhaus seine Wurzeln schlug. Denn „History is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.”