Als sich Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung aufzulösen begann, erschien in der „Bibliothek der Weltgeschichte“ des Züricher Manesse Verlages ein Band, der den Titel „Rußlands Drang nach Westen“ trug. Er enthielt eine Auswahl jener „Briefe“, die Karl Marx und Friedrich Engels zwischen 1853 und 1856 geschrieben hatten und in der New Yorker „Daily Tribune“ erschienen waren. In der Artikel-Serie erläuterte Karl Marx als Europa-Korrespondent der US-Zeitung dem amerikanischen Publikum „The Eastern Question“ und das Geschehen des so genannten Krimkrieges. Auf der Halbinsel im Schwarzen Meer traten Mitte des 19. Jahrhunderts England, Frankreich und weitere Verbündete Russland entgegen, das auf Kosten des Osmanischen Reiches wenn nicht sein Staatsgebiet, so doch seinen Einflussbereich erweitern wollte.
In dem russischen Wunsch erkannten Marx und sein Freund Engels eine Politik, die seit dem 10. Jahrhundert auf Expansion angelegt gewesen ist: „Rußland ist entschieden eine Eroberernation“, machte Friedrich Engels gleich am Anfang der Artikel-Serie klar. Solche Klarsicht wünschten sich im späten 20. Jahrhundert nicht Wenige im Westen zurück, der in weiten Teilen dem Charme des letzten Staats- und Staatsparteichefs der Sowjetunion erlegen war. Als mit Michail Gorbatschow auch die Sowjetunion am Ende war, kam so manchem die Warnung vor dem russischen Drang nach Westen gerade recht.
Nicht zufällig hat für die Neuauflage des Buches das Nachwort ein gewisser Lothar Rühl verfasst, der von 1982 bis 1989 Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung unter Manfred Wörner gewesen ist. Auch dem späteren Nato-Generalsekretär dürfte also die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Einschätzung Engels bekannt gewesen sein, der die „natürliche“ Grenze Russlands von Danzig oder etwa Stettin bis Triest verlaufen sah.
Der Grenzverlauf entspricht genau der Linie, die nach dem Zweiten Weltkrieg Ost und West für ein halbes Jahrhundert trennte. Mit der Auflösung des Eisernen Vorhangs und der Sowjetunion stellten sich die alten Fragen neu. Wo zum Beispiel der Anfang des Endes des jeweiligen Einflusses ist? Insofern kam auch Marxens Warnung recht, dass der „russische Bär zu allem fähig [ist], solange er weiß, daß die anderen Tiere, mit denen er zu tun hat, zu nichts fähig sind.“
Die alte Einschätzung sollten sich heute all jene vor Augen halten, die der Annäherung Deutschlands an Russland, der Auflösung der Nato und auf Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg das Wort reden. Die russische Diplomatie, ergänzte Marx Mitte des 19. Jahrhunderts, beruhe nicht zuletzt auf der Feigheit der Staatsmänner des Westens. Nur zusammen fanden sie in der Vergangenheit den Mut und die Kraft, Russland in die Schranken zu weisen. So hat auch die Nato in Zukunft den Zweck, „to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“.