Bleibende Geschichte, vergessene Geschichten

Heute hängen die Fahnen auf der Brücke über der Maas lasch im Wind, vor 150 Jahren standen die Zeichen in und um Sedan auf Sturm. Wie unter einem Brennglas konzentrierte sich auf diese Stadt und ihre Festung 1870 der deutsch-französische Krieg. Unter preußischer Führung schlossen hier deutsche Truppen die Armee MacMahons ein und zwangen sie zur Kapitulation: „Der vor- und gestrige Tag kosten Frankreich 100 000 Mann und einen Kaiser“, schrieb am 3. September 1870 Otto von Bismarck seiner Frau. Mit der Gefangenahme Napoleons III. endete das 2. Kaiserreich und fing der deutsch-französische Gegensatz erst richtig an, auch wenn die III. Französische Republik und das Deutsche Kaiserreich erst Tage beziehungsweise Wochen später ins Leben gerufen wurden. Anfang und Ende, Sieg und Niederlage überlagern sich auch und gerade an diesem Ort, der für Generationen von Deutschen und Franzosen die Erinnerung prägte. Carl Zuckmayer hat sie wie kein Zweiter in Worte gefasst und in seinem Drama „Der Hauptmann von Köpenick“ auf die Bühne gebracht: Wie der Dramatiker den „Sedanstag“ in der Zuchthauskapelle der preußischen Strafanstalt Sonnenburg in Szene setzte, rief dem Publikum jenen „religiösen Charakter“ in Erinnerung, den die Feiern zum 2. September mehr und mehr im Wilhelminischen Reich angenommen hatten. Gleichzeitig entwickelte sich die „Verabscheuung“ Frankreichs zu einem „Kult“, der sich in das „Gebet der Kinder auf der anderen Seite des Rheins schleicht“, wie die Brüder Goncourt nach einem Deutschlandbesuch notierten. Die Sedansfeiern finden nicht mehrt statt, die Erinnerung an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 ist verblasst. Viele Geschichten sind vergessen, aber die Geschichte bleibt.