Von Vorbildern und unserem Umgang mit der Vergangenheit

Wir haben wieder Vorbilder. Jedenfalls innerfamiliär sind Großväter, seltener Mütter, angesagt. Ihre transgenerationelle Attraktion hängt an vielen Faktoren wie der Familienkonstellation und -tradition, die unterschiedlich lang und ausgeprägt ist.

Aufstieg

Mein Großvater war auch mir ein Vorbild. Ein Vorbild an Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit und Menschlichkeit. 1906 geboren, war er einer der Ersten der Familie, der außerhalb des Heimatdorfes („üwwer de Bahn“), eine Ausbildung absolvierte. (Ein Schäfer ist im 18. Jahrhundert in Paris verstorben. Wahrscheinlich auf der Wanderschaft.) Opa hat mit 14 die Schule verlassen. Trotz Ruhrbesetzung, Hyperinflation usw. hat er im Anschluss gar noch eine Landwirtschaftsschule in Kaiserslautern besucht. So gerüstet stieg er Mitte der 20er Jahre in den väterlichen Betrieb ein. Er hat ihn übernommen, ausgebaut und übergeben. Anfang 2001 ist er verstorben.

Arbeit

Über 80 Jahre hat Großvater gearbeitet. Täglich, außer Sonntag. Vor allem in den Weinbergen. Im Keller sah man ihn nur, wenn ihm das Wetter die Arbeit draußen verwehrte. Kurz vor 8 Uhr raus, 12 Uhr zurück, 13 Uhr wieder raus und um 17 Uhr zurück. Im Winter, der im Oberrheingraben ja nicht so winterlich ist. Im Laufe des Jahres verschoben sich die Zeiten mit dem Sonnenstand und den Temperaturen. Früher raus, später heim. Wenn’s im Hochsommer zu heiß wurde, auch eine längere Siesta.

Unrecht?

Der von den Mettenheimer Kirchenglocken begleitete Tages- und Jahresrhythmus wurde nur einmal unterbrochen: 1940. Großvater musste in den Krieg. Zunächst nach Frankreich, dann nach Russland. Vor Woronesch verwundet, kehrte er als „Stützpunktleiter“ in die Ukraine zurück. Er hat tausende „Arbeiter“ bei der „Befestigung der Dneperstellung [sic]“ unter seinem Kommando gehabt und gehalten, auch als am „jenseitigen Ufer der Russe“ lag. Wie er seinen „Einfluss“ geltend machte und die „Disziplin“ aufrechterhielt, ist unklar. Zu Lebzeiten hat er im Gespräch mit einem Kameraden bekannt. „Es war nicht recht, was wir getan haben.“ Vorbildlich?

Engagement

Später fand ich heraus, dass er schon 1932 in die „Partei“ eingetreten war und zumindest zeitweise als „Ortsbauernführer“ fungierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat ihm eine französische Spruchkammer die „bürgerlichen Ehrenrechte“ aberkannt, wie er sagte. Das hat ihn geärgert. Ob er sich aus diesem Grund wieder politisch engagiert hat, weiß ich nicht. 18 Jahre diente er seiner Heimatgemeinde als ehrenamtlicher Ortsbürgermeister, ausgezeichnet mit der Freiherr-vom-Stein-Plakette des Landes Rheinland-Pfalz für kommunalpolitisches Engagement. Ein Vorbild?

Geschichten ohne Geschichte

Seit Harald Welzer seine Untersuchung des „Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ veröffentlicht hat, wissen wir, wie „Vergangenheit im intergenerationellen Gespräch“ verhandelt wird. Geschichten ohne Geschichte. Opa war Nazi, vielleicht, zu einem Opfer der Umstände oder einem falschen Helden hat er sich nicht gemacht. (Heroisierung und Viktimisierung sind die gängigen Exkulpationsnarrative.) Ich denke, dass Opa einer der Opportunisten war, die in der „Bewegung“ Chancen sahen. Zum sozialen Aufstieg, wirtschaftlichen Erfolg und anderem. Vorbildlich?

Die Vergangenheit nicht beschweigen, sondern befragen

Ja, ein Vorbild (s.o.), ja, weil das großväterliche Verhalten dem Enkel Anleitung war und ist: sich für die Demokratie zu engagieren, nicht jedem Geschäft nachzujagen und dem Frieden zu dienen.

Das Vorbild mahnt auch, im intergenerationellen Gespräch die Vergangenheit nicht zu beschweigen, sondern offensiv zu befragen. Falsche Vorbilder schaden. Der Familie und ihrem Unternehmen. (cws)